zur Erinnerung

Wider dem Vergessen

In der Nacht vom 25.08.2018 zum 26.08.2018 wurde ein Mann in Chemnitz "abgeschlachtet".

Kulturhauptstadt:

Was die Jury an Chemnitz lobt und was sie moniert Den Slogan solle man überdenken und mehr auf die europäische Dimension der Proteste von 2018 eingehen

Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig und Ferenc Csak, Projektleiter der Bewerbung um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2025, haben Ende September das Bewerbungsbuch vorgestellt. Jetzt muss es überarbeitet werden. Die Jury hat der Stadt einige Hausaufgaben aufgegeben.
Foto: Andreas Seidel, Archiv


Anfang Dezember war Chemnitz gemeinsam mit vier weiteren Städten auf die Shortlist für das Rennen um den Titel Europäische Kulturhauptstadt 2025 gekommen. Jetzt veröffentlicht das Entscheidergremium ein Papier, in dem alle Bewerbungen ausgewertet und Empfehlungen gegeben werden. "Freie Presse" beantwortet die wichtigsten Fragen dazu.
Was ist der Jury positiv an der Chemnitzer Bewerbung aufgefallen?

Die Jury schreibt, die Bewerbung basiere auf einem starken Prozess von unten. Die Ideen seien mit vielen Bürgern besprochen worden. Der Kandidat, habe die Zivilgesellschaft durch Kulturbotschafter, Mikroprojekte und mit einer Vielzahl an interessanten Initiativen mit einbezogen und habe vor, das 2025 weiterhin zu tun.

Die Kulturstrategie der Stadt bewertet die Jury als positiv und solide. Auch den Fakt, dass 24 Kommunen aus der Region in die Bewerbung mit einbezogen sind, sieht die Jury als Vorzug. Weiterhin sehe das Gremium das Ziel, in öffentliche Plätze zu investieren sowie die Priorität, die der kulturellen und kreativen Industrie gegeben wird, als maßgeblich an.

Die bestehenden Beziehungen zu Partnerstädten und anderen Kulturhauptstädten werden als guter Ausgangspunkt bezeichnet, um eine europäische Dimension der Bewerbung herauszuarbeiten. "Es gibt auch starke und bedeutungsvolle Beziehungen mit Manchester", heißt es.

Die drei thematischen Säulen des kulturellen und künstlerischen Programms der Bewerbung - Arbeit, Raum und Spuren - seien gut auf das bestehende Kräfteverhältnis der kulturellen Institutionen und der freien Szene abgestimmt.

Deutlich positiv herausgehoben wird der politische Rückhalt der Bewerbung, mit einem fast einstimmigen Stadtratsbeschluss. Die bestehende kulturelle Infrastruktur "ist ziemlich gut", konstatiert die Jury. Investitionen in ein Kulturquartier oder in die Verschönerung der Flussufer "werden zur urbanen Entwicklung beitragen".

Auch das Bemühen, nachhaltige Mobilität für die Region voranzubringen - gemeint sein dürfte das Chemnitzer Modell - sei ein Vorteil.

Wo kritisiert das Gremium und wo weist es auf nötige Nachbesserungen hin?

Die Bewerbung gehe nicht auf Bedeutsamkeit und Konsequenzen aus den Protesten vom Spätsommer 2018 aus europäischer Perspektive ein. Ihr fehle ein Plan, über dieses Thema mit anderen zu diskutieren und von ihnen zu lernen. Die Jury denkt da an einen Austausch mit anderen europäischen Städten und internationalen Künstlern.

"Weiterhin möchte das Gremium betonen, dass der Gebrauch von Humor in Verbindung mit früheren totalitären Regimen und damit verbundenen Philosophen eine Herausforderung ist, die mit aller gebotenen Sorgfalt behandelt werden muss." Diese Kritik dürfte auf den ironischen Umgang mit Karl Marx abzielen.

Außerdem enthalte das Kulturhauptstadt-Programm keine überzeugenden Höhepunkte, die europäische und internationale Besucher anziehen könnten. Im Papier wird deutlich, dass es für einen Titelgewinn aber genau dessen bedürfe. Die künstlerische Vision sei noch nicht deutlich genug.

Auch zum Slogan "Aufbrüche" äußert sich die Jury. Dieser sei allgemein und biete keine klare Botschaft, die sich - vor allem für ein internationales Publikum - für Marketingzwecke nutzen lasse. Der Slogan sollte überdacht werden, steht im Papier.

Auch am Projekt, die 24 Nachbarkommunen mit in die Bewerbung einzubeziehen, müsse weitergearbeitet werden. Die Zusammenarbeit müsse über Punkte im Kulturprogramm hinausgehen.

Nicht genug in der Bewerbung ausgearbeitet seien grenzüberschreitende Kooperationen mit Tschechien und Polen. Im zweiten Bewerbungsdossier müsse zudem noch besser erklärt werden, was sich in Chemnitz dank des Kulturhauptstadtprojektes verändern wird.

Außerdem gehe die Bewerbung unzureichend auf die Zeit nach 2025 ein.

Was kritisiert die Jury an den anderen Bewerbern?

Auch Hildesheim soll seine künstlerische Vision und die europäische Dimension weiter ausarbeiten. Schwächen der Bewerbung seien der politische Rückhalt und die Finanzierung. Auch mit der organisatorischen Struktur hinter der Bewerbung von Hildesheim zeigt sich die Jury unzufrieden.

Auch Magdeburg muss inhaltlich und künstlerisch nachbessern. Konkret bemängelt die Jury, dass die europäische Bedeutung des mittelalterlichen Magdeburger Rechts in der Bewerbung nicht ausreichend gewürdigt werde. Magdeburg brauche mehr innovative Ideen.

Hannover müsse ebenfalls die europäische Dimension vertiefen. Am Kulturhauptstadt-Programm und der Erzählung der Stadt müsse noch substanzielle Arbeit geleistet werden.

In Nürnberg bemängelt die Jury Steuerung und Organisation des Projekts. Die Themen Nazi-Vergangenheit, Humanismus, internationales Recht und Spielindustrie seien zwar stark, ihre Verbindung zueinander werde aber nicht dargestellt.

Wie geht es jetzt weiter?

Bis 31. Juli müssen die Bewerber ein neues, 100-seitiges Dossier einreichen. Vier Jury-Mitglieder werden einen Tag lang in den Kandidatenstädten zu Gast sein. Chemnitz rechnet im September damit. Vom 21. bis 23. September wird sich die Jury abschließend in Berlin treffen und den Titelgewinner bestimmen.
Jjpe


Quelle: FP vom 25. Januar 2020


einige Kommentar:

franzudo2013

Die Kritik ist ohne Zweifel eine Chance. Die Bälle für die Tore sind aufgelegt. Das schwierigste Thema ist wahrscheinlich 2018. Bitte, bitte ehrlich machen. Das ist die einzige Chance. Es waren nicht alles Rechtsextreme, die schockiert waren, dass so ein Mord geschehen ist. Es waren nicht alles Chemnitzer und Menschen guten Mutes, die bei FeineSF waren.
Das ist die Aufgabe.

HHCL

"Außerdem enthalte das Kulturhauptstadt-Programm keine überzeugenden Höhepunkte, die europäische und internationale Besucher anziehen könnten."

Man fährt hier offenbar bis jetzt das gleiche Konzept wie zum Stadtjubiläum, bei dem man auf jede denkbare Veranstaltung das Etikett "875" pappte und bei genauerer Betrachtung im Grunde nichts(!) neues auf die Beine gestellt wurde.

Wenn man Kulturhauptstadt werden will, muss man sich wirklich mal trauen. Etikettenkleben reicht nicht. Man muss die grassierende Provinzialität in den Griff bekommen, und mal aus sich herauskommen, sonst wird es nichts werden.

"Wo außenstehende Graue Blöcke in der City sehen, sind für viele Chemnitzer Orte persönlicher Erinnerungen - auch an einer längst vergangen Epoche."

Ja, aber dann muss man bereit sein den Außenstehenden die Bedeutung der "Grauen Blöcke" zu erklären und das dann mit Leben füllen. Man erwartet hier viel zu oft, dass "Fremde" informiert hier anreisen und schon Verständnis mitbringen müssen. Nach außen wirkt das dann eben verschlossen, kalt und abweisend; eben grau. Dieses Bild und diese Erwartungshaltung sehe ich beispielsweise ganz oft hier im Forum: Der "Fremde" als Störenfried, der auch gar nichts verstehen will. Das scheint mir hier weit verbreitet.

"Während andere Städte noch an wesentlichen Themen wie zum Beispiel mangelnder Rückhalt in der Bevölkerung und Politik, [...] arbeiten müssen."

Ehrlich gesagt, sehe ich das in Chemnitz auch noch nicht. Der große Kulturhauptstadt-Hype scheint mir nur sehr begrenzte Bevölkerungsschichten erreicht zu haben. Wenn das schon mehr ist als in anderen Städten, wäre das schlimm. Man wird sich hier ernsthafte Gedanken machen müssen, wie man die Mehrzahl für die Idee gewinnt. Wenn man sich darauf jetzt ausruht und in dem Bereich schon auf der sicheren Seite glaubt, könnte das zu weiteren Problemen führen.


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 15.02.2023 - 18:48